Menschenkette /Roman

Am 22. Oktober 1983 protestieren mehrere Hunderttausend Menschen gegen die geplante Stationierung von Atomraketen in Süddeutschland – in einer 108 Kilometer langen Menschenkette von der Befehlszentrale der europäischen US-Truppen in Stuttgart-Vaihingen bis zu den Wiley Barracks in Neu-Ulm. Mit ihnen machen sich auch Oliver, Marlene, Ulrike, Wilfried, Franzi und Ines auf den Weg, denn sie sind sich einig: Die Welt muss gerettet werden vor dem Atomkrieg. Doch was von außen wirkt wie eine einzige große Bewegung, ist in Wirklichkeit ein Gemisch aus unterschiedlichsten Motivationen und Überzeugungen, die umso heftiger aufeinanderprallen, als alle nur das Beste wollen. Doch: „Wer die Hoffnung aufgibt, hat schon verloren. Das gilt für Menschenketten genauso wie für den Weltfrieden.“

„Menschenkette“ ist im 8grad Verlag, Freiburg, erschienen.
ca. 300 Seiten, Hardcover. Ladenpreis: 24 €. ISBN: 978-3-910228-05-4

Leseprobe

22. Oktober 1983.

Das Neckartal und die Fils entlang, über die Schwäbische Alb bis hinunter zur Donau zieht sich ein langes Band von Menschen. Niemand weiß genau, wie viele es sind, dreihunderttausend, vielleicht auch vierhunderttausend, auf jeden Fall sind es viele, viel mehr, als jeder und jede Einzelne von ihnen zu hoffen gewagt hat. Hand in Hand stehen sie, Schulter an Schulter, von Stuttgart bis Ulm, ein 108 Kilometer langes, dichtes Band von Menschen, mancherorts in engen Schlangenlinien, an anderen Stellen in doppelten, dreifachen, vierfachen Reihen. Aus ganz Süddeutschland sind sie gekommen, einer groß angelegten Choreografie folgend: aus dem Remstal nach Stuttgart; von den Fildern und aus dem fernen Saarland nach Esslingen; aus Freiburg, Lörrach und vom Hochrhein in die Neckarhafenstadt Plochingen; aus Karlsruhe, dem Kraichgau und der Südpfalz in das beschauliche Reichenbach; aus Nordbayern in die Industriestädtchen Ebersbach und Uhingen; aus Pforzheim nach Faurndau; aus Mannheim und Ludwigshafen nach Göppingen; aus dem entlegenen Nordosten  Baden-Württembergs und den Tälern von Jagst, Kocher und Brenz in die Orte mit den verlockenden Namen Süßen und Kuchen; von den Hängen und Höhen des Schwarzwalds in das tausend Jahre alte Gingen; vom Odenwald und von der Bergstraße nach Geislingen an der Steige, wo es aus dem Filstal steil die Schwäbische Alb hinaufgeht; aus Südhessen in die abgeschiedenen Bauerndörfer Urspring und Lonsee; vom Bodensee und aus Oberschwaben nach Westerstetten; und die Ulmer und Neu-Ulmer schließlich bilden zusammen mit den vom langen Lauf der Donau Angereisten das südöstliche Ende der Kette, über die Donaubrücke hinüber nach Bayern. Österreicher sind gekommen, eine Gruppe Frauen aus Dänemark, aus der DDR ausgewiesene Bürgerrechtler, Befreiungstheologen aus Lateinamerika, schwarze Geistliche aus Südafrika, Mütter aus Hiroshima, buddhistische Mönche. So unterschiedlich sie sind, woher sie auch kommen, in einem sind sie sich einig: Atomraketen wollen sie nicht. Nirgends auf der Welt, und auch nicht hier, auf diesen friedlichen grünen Hügeln, sie sollen nicht zur Zielscheibe werden und nicht zum Waffenlager.

Da steht Ines, zweiundzwanzig Jahre alt, Studentin. Süddeutschland ist ihre Heimat, sie soll nicht dem Erdboden gleichgemacht werden, sagt sie. Und: Wir lassen uns nicht zu Geiseln der Weltpolitik machen. Zornig klingt sie, auf dem Ärmel ihrer Jacke prangt ein Aufnäher mit dem Konterfei Che Guevaras. Die USA sind Imperialisten, sagt sie, wir ergeben uns nicht.

Ein Stück weiter steht Marlene, siebenundzwanzig ist sie und sieht doch kaum älter aus als Ines. Ein schüchternes Lächeln liegt auf ihrem Gesicht, aber ihr Blick ist entschlossen. Ich will leben, sagt sie, wir alle wollen das, oder nicht? Es geht nicht nur um uns, nicht nur um Deutschland, es geht um die Welt. Und dann singt sie: Nach dieser Erde wäre da keine, die eines Menschen Wohnung wär … Darum, Menschen, achtet, dass sie es bleibt!

Marlenes Hand liegt auf der Schulter eines älteren Mannes. Die Hand, die sie fassen müsste, fehlt, der leere Ärmel ist sorgsam in die Manteltasche gesteckt. Ich habe einen Krieg erlebt, sagt Werner, das genügt.

Seine verbliebene Hand hält die einer jungen Frau mit wilder Strubbelfrisur und dicken dunklen Kajalstrichen unter den Augen. Erst auf den zweiten Blick sieht man, wie jung sie ist, noch nicht einmal volljährig. In was für einer Welt sollen meine Kinder einmal leben?, fragt Franziska; es klingt trotzig.

Neben ihr steht Oliver, ein dünner Achtzehnjähriger mit verschlossenem Gesichtsausdruck, in seinem Blick liegt tiefer Ernst. Krieg geht gar nicht, sagt er, und jeder, der einen Beitrag dazu leistet, macht sich schuldig, ob er will oder nicht.

Bei diesen Worten huscht ein Schatten über Werners Gesicht. Ja, sagt er, ob man will oder nicht, aber manchmal will man nicht und hat doch keine Wahl.

Oliver schaut beschämt. Ich habe nicht Sie gemeint.

Doch, natürlich hast du auch mich gemeint, aber du hast ganz recht. Glücklich, wer ohne Schuld durchs Leben kommt.

Geht das überhaupt?, sinniert Marlene.

Wahrscheinlich nicht. Aber wer so jung ist wie ihr, kann noch hoffen.

Um sie herum wird gesungen, der von Marlene begonnene Kanon ist aufgegriffen worden, hat sich in beide Richtungen ausgebreitet, so weit, dass das, was von links und von rechts zu hören ist, nicht mehr so recht zusammenpassen will. Irgendwo in der Kette löst sich ein Luftballon und steigt in den blauen Himmel auf.

Es ist zwanzig vor eins.