In meiner Dissertation habe ich mich mit einer Gattung an der Grenze zweier Künste beschäftigt, nämlich dem Libretto, genauer: dem Oratorienlibretto. Was unterscheidet Texte, die zur Vertonung bestimmt sind, von anderen, rein literarischen Texten? Und welche Gattungsmerkmale lassen sich möglicherweise aus dem Text ableiten? Das waren die Fragen, die mich leiteten. Quasi nebenbei entstand ein Überblick über die deutschsprachige Oratorienproduktion in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Dazu untersuchte ich die deutschsprachige Oratorienproduktion aus den Jahren von 1945 bis 2000. Werke aus Österreich und der Schweiz wurden ebenso aufgenommen wie solche aus den beiden deutschen Staaten, vorausgesetzt, der Text ist zumindest überwiegend deutsch. Nicht berücksichtigt wurde das Oratorium sozialistischer Prägung aus der DDR, da sich seine kulturellen und ästhetischen Voraussetzungen erheblich von den übrigen unterscheiden.
Dabei konnte ich folgendes feststellen:
1. Entgegen der vielbeschworenen Tendenz zur Verweltlichung, zum Allgemein-Weltanschaulichen erweist sich das Oratorium auch im 20. Jahrhundert als eine Gattung, die sich in überwiegend biblischen und religiösen Kontexten bewegt. Zwar liegt nicht allen Oratorien ein Sujet der biblischen oder außerbiblischen christlich-jüdischen Überlieferung zugrunde; Zitate oder Anspielungen auf die Bibel finden sich jedoch in fast allen Werken.
2. Sein Umgang mit der Bibel und mit anderen Textquellen ist charakteristisch für das Oratorienlibretto. Indem einzelne Sätze oder längere Abschnitte aus fremden Prätexten, häufig aus der Bibel, wörtlich übernommen und in neue Zusammenhänge montiert werden, entwickelt sich die für das Oratorium typische Erzählweise, die zwischen paraphrasierenden und aktualisierenden Abschnitten, berichtenden und kommentierenden Passagen in mehr oder weniger schneller Folge abwechselt.
3. Die seit der Romantik übliche Dichotomie zwischen „weltlichem“ und „geistlichem“ Oratorium lässt sich für das 20. Jahrhundert nicht bestätigen. Ein geeigneteres Differenzierungskriterium scheint weniger der gewählte Stoff als vielmehr der Umgang mit diesem zu sein: Auf der einen Seite stehen Oratorien, die die Botschaft des Prätextes in missionarischer Absicht bekräftigen; auf der andern Seite nähern sich etliche Werke kritisch-diskursiv den verwendeten Quellen.
4. Allen Oratorien zu eigen ist ein gewisser appellativer Charakter. Themen wie die Sinnhaftigkeit des menschlichen Lebens, richtige Lebensführung und die Suche nach dem Guten ziehen sich wie ein roter Faden durch die zeitgenössische Oratorienproduktion. Der Anspruch, moralische Richtlinien für das eigene Leben zu vermitteln, ist unübersehbar. Damit ließe sich eine Abgrenzung zur Nachbargattung Oper vornehmen: die Oper entwickelt sich um eine Geschichte, eine Handlung herum, das Oratorium um eine Botschaft. Um diese These zu erhärten, wären allerdings weitere Untersuchungen, insbesondere der Opernlibretti des betrachteten Zeitraums, vonnöten.
5. Auch die Zeitstruktur des Oratoriums unterscheidet sich von der der Oper. Epische Textanteile ermöglichen es, Handlung zusammenfassend zu berichten und Zeitsprünge gar nicht erst entstehen zu lassen. Durch den Verzicht auf szenische Darstellbarkeit erhalten handlungsarme Reflexionen und Kommentare größeren Raum. Dies führt im Extremfall zum vollkommen handlungsfreien, vollständig thematisch orientierten Oratorium.
6. Aus der Abfolge von berichtenden und kommentierenden Passagen konstituiert sich die gattungstypische Ebenenstruktur. In dieser Ebenenstruktur liegt die eigentliche „Dialogizität“ des Oratoriums, die sich in Besetzungswechseln zeigen kann, jedoch nicht darin erschöpft. Die insgesamt fünf Strukturformen lassen sich auf zwei Prototypen zurückführen, in denen sich die Gattungstradition fortgesetzt sieht. Der Typus des Kommentierten Berichts geht zurück auf das klassische Drei-Ebenen-Modell mit episch-dramatischem Bericht in den Rezitativen, lyrischer Gefühlsäußerung in den Arien, und kommentierender Reflexion in den Chorälen. Es entwickelt seine Botschaft um eine zumindest fragmentarisch im Text präsente Handlung. Dem gegenüber steht der Typus des Dialogs, der sich auf das lyrisch-empfindsame Oratorium der Klassik und Romantik zurückführen lässt. Im Dialog tritt die Handlung vollständig hinter die Kommentarebenen zurück.